Die Flügel der Hoffnung: Fortsetzung zu – Im Herzen des Drachen – Hoch oben in den schneebedeckten Gipfeln eines uralten Gebirges, verborgen vor der sterblichen Welt, lebte Kaeltharion, der ewige Drache. Seine schimmernden Schuppen glitzerten wie ein Sternenhimmel aus Silber und Weiß, und sein Auge war ein endloser Strudel aus Licht und Dunkelheit, tief wie das Meer und älter als die Zeit. Doch in dieser Einsamkeit trug Kaeltharion selbst eine Last, die schwerer war als jede Kette – die Bürde seines Mitgefühls für die Menschheit und die quälende Suche nach einer Gemeinsamkeit mit seiner eigenen Einzigartigkeit.
Immer wieder kamen sie zu ihm, getrieben von Schmerz und Verzweiflung, eine endlose Prozession gebrochener Seelen. Die Menschen sprachen von ihm in Legenden und Flüstern, als vom „Träger der Lasten“, dem Drachen, der jedes Leid nehmen konnte. So folgten sie den Geschichten, kletterten die schwindelerregenden Berge empor und suchten seine Gnade – unfähig, aus dem Geschenk, das er ihnen gab, etwas Bedeutungsvolles zu machen.
Doch an einem stürmischen Tag kam Lyria.
Die Begegnung mit Lyria
Eines Tages, als ein Sturm über die Berge tobte, kam Lyria zu ihm. Kaeltharion hörte sie lange, bevor er sie sah – ihre Schritte waren schwer, ihr Atem unsicher. Doch als sie vor ihm stand, erkannte er etwas, das ihn innehalten ließ. Ihr Haar fiel wie ein dunkler Schleier über ihre Schultern, und ihre Augen, so klar wie Bergseen, schienen jede Täuschung zu durchdringen.
„Ich bin Lyria. Bist du Kaeltharion, der Wächter der Berge?“, fragte sie.
„Das bin ich. Doch warum suchst du mich, Lyria?“
„Ich habe von dir gehört. Von deiner Macht, deiner Weisheit. Die Menschen sagen, du bist eine Legende. Ich wollte sehen, ob es wahr ist.“
Kaeltharion lächelte innerlich. „Und nun, da du hier bist – was suchst du wirklich?“
Sie zögerte. „Einen Freund“, sagte sie schließlich. „Jemanden, der versteht.“
Kaeltharion war überrascht von ihrer Ehrlichkeit. „Einen Freund? Was bringt dich zu der Annahme, dass ich ein solcher sein könnte?“
„Du bist der einzige, der alles sieht“, sagte sie leise. „Die Schönheit, den Schmerz. Du trägst die Last der Welt. Vielleicht kannst du auch meine tragen.“
Die entstehende Freundschaft
Die Tage vergingen, und Lyria blieb in den Bergen. Sie und Kaeltharion sprachen stundenlang über die Welt, die Menschen und die Dinge, die sie schwerer zu tragen fand. Kaeltharion war fasziniert von ihrem scharfen Verstand, von ihrer Fähigkeit, die Abgründe in den Herzen der Menschen zu durchdringen.
„Du bist außergewöhnlich, Lyria“, sagte er eines Tages. „Du siehst Dinge, die anderen verborgen bleiben. Du bist stärker, als du denkst.“
Doch Lyria schüttelte den Kopf. „Ich bin anders, Kaeltharion. Die Menschen verstehen mich nicht. Sie sind laut, oberflächlich, und sie erwarten Dinge, die ich nicht geben kann.“
„Vielleicht“, erwiderte der Drache, „doch du hast etwas, das sie brauchen könnten – eine klare Sicht, ein Verständnis, das sie erkennen lässt.“
Lyria sah ihn an, und in ihrem Blick lag eine Mischung aus Bitterkeit und Sehnsucht. „Und wer führt mich?“
Die wachsende Nähe und die ersten Zweifel
Kaeltharion wollte ihr helfen, und so begann er, sie mit seiner Macht zu umgeben, ihre Sorgen zu lindern und ihr Herz zu beruhigen. Er zeigte ihr die Schönheit der Welt: die tanzenden Nordlichter, die endlosen Ozeane, die flüsternden Wälder. Er wärme sie mit der endlosen Energie und teile seinen offenen Blick für die Schönheit des Momentes mit ihr.
Eines Abends, während sie gemeinsam auf einem Berg saßen und die Sterne betrachteten, sprach Lyria: „Nimm mich mit auf deinen Flügeln, Kaeltharion. Zeig mir die Welt, so hoch und so weit, wie du nur kannst.“
Der Drache zögerte. Er spürte in ihren Worten nicht nur die Freude, sondern, wie schon zuvor, eine unendliche Gier nach mehr. Doch ihre Augen flehten ihn an, und so hob er sie auf seinen Rücken und flog mit ihr durch den Nachthimmel. Mit ihm seine Hoffnung, dass es ihr diesmal möglich wäre, die Freude in ihrem Herzen zu behalten.
Kaeltharion spürte, wie sie ihm die Stirn auf den Rücken legte, während sie durch die Sterne flogen. Für einen Augenblick war sie still, ihre Last schien leichter. Sie lachte, ein Klang, den er noch nie von ihr gehört hatte, und für einen Moment glaubte Kaeltharion, dass er sie vielleicht doch heilen konnte. Doch als sie landeten, sagte sie: „Das war wundervoll. Aber was ist noch da draußen? Lass mich morgen was Neues sehen.“
Der unersättliche Wunsch
Kaeltharion begann zu bemerken, dass alles, was er Lyria gab, nie genug war. Jedes Mal, wenn er ihr eine neue Welt zeigte oder eine frische Perspektive offenbarte, kehrte sie mit noch größerem Kummer und noch schwereren Sorgen zurück. Es fehlte ihr an Dankbarkeit und innerer Zufriedenheit; die Momente, die sie teilten, wurden wertlos, sobald sie endeten. Ihre Unfähigkeit, das zu lieben, was ihr gegeben wurde, spiegelte sich in ihrer Unfähigkeit wider, sich selbst zu lieben. Nur auf seinem Rücken und durch die Kraft, die er ihr verlieh, konnte sie Freude empfinden.
„Warum findest du keinen Frieden, Lyria?“, fragte er eines Tages.
„Weil die Welt mich nicht versteht“, sagte sie. „Und ich sie nicht. Du hast doch alles, Kaeltharion – Wissen, Macht. Warum kannst du nicht einfach tragen, was ich nicht tragen will?“
Kaeltharion: „Weil das Gewicht nie schwindet, Lyria. Es wächst, wenn du dich ihm nicht stellst.“
Kaeltharion wusste, die Wahrheit war, dass Lyria sich nicht verstehen wollte. Sie klammerte sich an ihren Schmerz wie an einen Schatz, zog Trost aus der Dunkelheit, die sie umgab.
„Lyria“, sagte er behutsam, „du bist stark genug, um aus deinem Schatten zu treten. Du kannst dein Leben ändern.“
Doch sie schüttelte den Kopf. „Warum sollte ich kämpfen, wenn ich dich habe? Du verstehst mich. Die anderen Menschen nicht.“ Du sagst, ich halte an meinem Leid fest“, fuhr sie fort. „Aber was, wenn es das Einzige ist, das ich kenne, die Dunkelheit ist? Und du bist mein Licht. Warum sollte ich das ändern?“
Der Drache fühlte einen Stich in seinem Herzen. Er hatte geglaubt, ihre Freundschaft sei echt, doch nun begann er zu begreifen, dass sie ihn nicht um seiner selbst willen suchte – sondern wegen dessen, was er ihr geben konnte. Sein einzigartiges Licht zog sie an, wie die vielen Menschen zuvor.
Der Bruch und ein Abschied
Mit der Zeit spürte Kaeltharion einen anhaltenden, tiefen Schmerz in seinem Herzen. Lyrias Lasten drückten schwer auf seine mächtigen Schuppen, und seine Sorge um sie wuchs ins Unermessliche. Immer wieder forderte sie mehr von ihm, schien nie zufrieden mit dem, was er ihr gab. Die Sorgen, die er ihr abnehmen wollte, waren dieselben, die er ihr bereits in den Tagen, Wochen und Monaten zuvor genommen hatte – ein Kreislauf, aus dem es kein Entkommen gab.
Eines Tages konfrontierte er sie. „Lyria, warum kommst du immer wieder zu mir? Ist es, weil du wirklich an unserer Freundschaft glaubst, oder weil ich dich entlaste, wenn du es nicht kannst?“
Ihre Augen wurden kalt. „Und wenn es so wäre? Du hast die Macht, Kaeltharion. Warum solltest du sie nicht nutzen?“
„Weil ich dir nicht helfen kann, wenn du dir nicht selbst helfen willst“, antwortete er.
Für einen Moment schien es, als würde Lyria nachdenken, als könnte sie verstehen. Doch dann lächelte sie kühl. „Vielleicht bist du doch nicht so weise, wie die Legenden sagen.“
Diese Worte schnitten tiefer als jede Klinge. Kaeltharion wusste, dass er sie nicht länger halten konnte – und dass er es auch nicht sollte.
Lyria ging, ohne sich umzublicken. Als ihre Gestalt im Nebel verschwand, zerbrach etwas in Kaeltharion. Es war nicht nur ihre Abwesenheit, sondern die schmerzliche Erkenntnis, dass ein Teil seines eigenen Lichts mit ihr gegangen war – ein Opfer, das sie niemals erkennen würde. Der Drache blickte in die Ferne, und die Winde um ihn fühlten sich kälter an als je zuvor. In der Stille der Berge dachte er an all jene, die Trost bei ihm gesucht hatten, doch Lyria war anders. Ihre Intelligenz und Stärke – sie waren verloren gegangen, weil sie sich entschieden hatte, die Dunkelheit in ihrem Herzen über alles andere zu stellen.
Die Einsamkeit kehrt zurück
Kaeltharion war wieder allein. Seine Schuppen glitzerten wie eh und je, doch sein Herz war schwer von der Last einer verlorenen Hoffnung.